Essay

Rätsel und Geheimnis

Viele Missverständnisse im Bereich des Religiösen erwachsen aus der Verwechslung von Rätsel und Geheimnis.

Schuld an diesen Missverständnissen sind meistens nicht die vernünftigen Bestreiterinnen der Religion, sondern zu einem grossen Teil die Verfechter des «richtigen» Glaubens.

Bleiben wir beim Christentum: «Die Dimension des Geheimnisses ist aus der Theologie fast entschwunden, weil man Geheimnis mit Rätsel verwechselt. Wenn ich das Rätsel gelöst habe, dann hat es seine Rätselhaftigkeit verloren. Je mehr ich aber von einem Geheimnis verstehe, desto geheimnisvoller wird es.» So konstatierte der lutherische Theologe Eberhard Jüngel 2014 in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag.

Verständnis in die Tiefe

Die Rede vom Geheimnis birgt ein historisches Faktum: dass nämlich das Christentum in seinen Anfängen sehr viele Ähnlichkeiten mit den antiken Mysterienkulten aufwies. Es gibt aber zwei entscheidende Unterschiede zwischen den Mysterienvereinen und den Christengemeinden. Zunächst: Mysterienkulte waren Geheimzirkel mit wenigen und nach gesellschaftlichen Opportunitäten ausgesuchten Mitgliedern. Die christlichen Gemeinden dagegen kannten keine Beschränkung aufgrund von Geschlecht oder sozialer Herkunft. Die zweite Besonderheit des Christentums bestand in der Ausprägung einer Theologie, einer rationalen Reflexion über das, was im Kult als Mysterium gefeiert wurde.

Für diese Theologie wurde das Mysterium, das Geheimnis, zu einer Schlüsselkategorie. Ihr Ziel war es, mit den Mitteln der Vernunft immer tie-fer in das Geheimnis göttlicher Gegenwart in der Welt einzuführen, und zwar genau in dem von Jüngel angesprochenen Sinn: Erkenntnis zielt in dieser Rede von Gott nicht auf die Lösung von Rätseln, sondern auf ein immer tieferes Durchdringen und Verstehen von Zusammenhängen.

Kein Ausschluss der Vernunft

Zwei Missverständnisse müssen aus dem Weg geräumt werden, die womöglich naheliegen, wenn vom Geheimnis die Rede ist. Ein erstes Missverständnis wäre, dass der Hinweis auf das Mysterium ein irgendwie geheimnistuerisches Denken und Reden legitimieren solle, welches sich abseits von vernünftigen Argumentationen und Plausibilitäten vollzieht.

Dies war ja gerade der Unterschied, den das Christentum in seinen Anfängen gegenüber den Mysterienkulten gemacht hat: Es behauptete, das Geheimnis sei dem vernünftigen Denken eben nicht gänzlich entzogen. Man kann sich also in das Mysterium nicht nur im Ritus, sondern auch im Denken einüben. Man kann ein Geheimnis verstehen lernen, ohne es des Geheimnisvollen zu berauben. Nüchternheit und Mystik schliessen einander in der Geschichte des Christentums keineswegs aus. Also: keine Absage an die kritische Vernunft!

Kein Exklusivrecht auf Geheimnisse

Das zweite Missverständnis wäre: Bei der Unterscheidung von Rätsel und Geheimnis gehe es darum, der Theologie einen Sonderstatus im Konzert der Wissenschaften zu reservieren.

Weder ist das Verstehen des Geheimnisvollen ein Exklusivrecht der Theologie, noch hat die Theologie es ausschliesslich mit Geheimnisvollem zu tun.

Rätselhaftes und Geheimnisvolles sind vielmehr zwei Dimensionen, die vielen Phänomenen innewohnen: In Geburt, Sterben, Liebe, Hass, Begeisterung, Depression, im Denken und Fühlen, in allen Willensentscheidungen sind rätselhafte und geheimnisvolle Aspekte miteinander verbunden.

Was wir daran begreifen können, das ist Rätsel. Was uns ergreift, was uns seelisch und geistig antreibt oder blockiert, das ist Geheimnis. Beides kann erforscht und beobachtet werden, aber mit unterschiedlichen Fragerichtungen, Methoden, Ergebnissen und Sprachen.

Jede Wissenschaft und jede Beschäftigung mit Welt und Mensch täte gut daran, zu unterscheiden zwischen den Fragen, die als Rätsel gelöst werden können, und jenen, die als Geheimnis bewahrt und verstanden werden sollten. Es wäre zu einfach, das Rätsel auf die Seite der Naturwissenschaften und das Geheimnis auf die Seite der Geisteswissenschaften zu schlagen.

Notwendige Differenzierung

Auch die christliche Theologie hat es mit Rätseln zu tun. Viele davon sind schon gelöst. Dazu gehören etwa textkritische Fragen in der Bibel. Die Erkenntnis, dass die fünf Bücher Mose nicht von Moses verfasst worden sind. Oder die Einsicht, dass die Bibel kein einheitliches Offenbarungsbuch ist, sondern eine ganze Bibliothek von vielen verschiedenen Büchern aus mehreren Jahrhunderten.

Solche Rätsel können und sollen gelöst werden. Aber die wissenschaftliche Theologie hat eben auch ernst zu nehmen, dass Religion sich auf ein Du, ein personales Gegenüber, und damit auf ein Geheimnis bezieht. Darum wird Theologie langweilig, blutleer und kraftlos, ja sie verfehlt ihr Thema, wenn sie die geheimnisvolle Dimension der Wirklichkeit ausblendet.

Im Bereich des Geheimnisvollen gibt es keine Rätsel zu lösen, sondern Gedanken und Sprachbilder nachzuvollziehen, die das Glauben, Denken und Handeln von Menschen über Jahrhunderte geprägt haben und es noch immer tun. Es geht hier also nicht darum, zu diskutieren oder zu entscheiden, ob etwas richtig oder falsch ist, zu Unrecht oder zu Recht geglaubt wird. Hier geht es darum, zu beschreiben und zu verstehen, wie Menschen sich selbst und das Geheimnisvolle in ihrem Leben und der Welt in Worte und Gedanken gefasst haben. Und darum, wie sie – in Entsprechung zum Glauben an ein göttliches Gegenüber – heute denken und leben können.

Befreiende Unterscheidung

Worin liegt nun die grösste Gefahr bei der Verwechslung von Rätsel und Geheimnis?

Wenn Rätsel zu Geheimnissen erklärt und dadurch religiös überhöht werden, dann schwingen sich Leute mit religiöser Legitimation zu Hütern aller menschlichen Erkenntnis auf. Dies geschah und geschieht immer dann, wenn Kirchen ihre Autorität und Macht ausnutzen, um dem Erkenntnisdrang des Menschen, der wissenschaftlichen Neugierde, dem Forschergeist Zügel anzulegen.

Viele Fragen, die Forschende und Wissbegierige umtreiben, sind aber einfach Rätsel, die gelöst werden können und wollen. Sie zu Geheimnissen zu erklären, die bewahrt werden müssten, führt in Ideologie oder in Esoterik.

Umgekehrt: Wenn alles Geheimnisvolle im Erleben der Menschen für noch nicht gelöste, aber prinzipiell lösbare Rätsel gehalten wird, dann tritt ein «Lückenbüsser»-Effekt ein. Gott wird dann jeweils an die Stelle gesetzt, an der das menschliche Erkennen an eine Grenze stösst. Das Geheimnis wird damit bei jedem Erkenntnisfortschritt in die nächste Ecke verschoben.

Das Geheimnisvolle, auf das sich christliche Kirchen und Theologien beziehen, ist aber nicht das jeweils letzte Rätsel, das die Menschheit noch nicht gelöst hat. Dieses Geheimnis ist eine Dimension menschlicher Erfahrung, die in allem steckt.

Das Rätselhafte und das Geheimnisvolle des Lebens dürfen nicht getrennt, müssen aber sorgsam unterschieden und aufeinander bezogen werden. Wenn das gelingt, eröffnet sich einerseits eine grosse Freiheit im Umgang mit allen Rätseln dieser Welt. Und andererseits weitet sich der Blick auf das Geheimnisvolle in den gelösten Rätseln.

Text: Katharina Heyden

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Katharina Heyden

wurde 1977 in Berlin-Ost geboren. Sie ist Professorin für Ältere Geschichte des Christentums und interreligiöse Begegnungen an der Universität Bern. Sie ist ordinierte Pfarrerin und Mitglied der Synode der EKS. Katharina Heyden lebt mit ihrer Familie im Berner Oberland.